Nichts gelernt? Wie die Corona-Krise kommunikative Schwächen entlarvt

Seit der ersten amtlich bestätigten SARS-CoV-2-Infektion in Deutschland bis heute sind exakt 111 Tage vergangen. So gefühlt weit entfernt COVID-19 am Anfang war, so gravierend sind die Auswirkungen der Corona-Krise in alle Bereiche des öffentlichen Lebens mittlerweile geworden. Was viele dabei vergessen: SARS-CoV-2 ist ein völlig neuer Krankheitserreger – zugegeben mit gewissen Ähnlichkeiten zu anderen Corona-Viren – und seriöse Wissenschaftler räumen entsprechend freimütig ein, über keine ausreichende Expertise in Bezug auf diesen speziellen Erreger zu verfügen, um den weiteren Verlauf vorherzusagen. Am Ende ist jede wissenschaftliche Erkenntnis zu SARS-CoV-2 nichts anderes als ein rasch erarbeiteter Zwischenstand – und jede Empfehlung von Wissenschaftlern und jede Verordnung seitens der Politik ist nichts anderes als der Versuch, „das Richtige“ zu tun.
Orientierung in Zeiten ohne Orientierungspunkt
Aus der Dynamik des Infektionsgeschehens und den zum Teil widersprüchlichen Neuerkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung entsteht für die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger ein mehr oder weniger wissensfreier Raum, in dem es an verbürgten und sicheren Erkenntnissen fehlt. Die rationale Politik, die gezwungenermaßen nach dem Prinzip von Check and Balances vorgehen muss, läuft dabei immer stärker Gefahr, die Bürger zu verlieren. Das Dilemma: Rational getroffene Entscheidungen wirken auf die Bevölkerung so gar nicht rational. Warum dürfen kleine Läden öffnen – aber Läden mit mehr als 850 qm Fläche nicht? Obwohl man da doch viel mehr Platz hat, um Abstand zu halten? Hinzu kommt noch der „föderale Flickenteppich“ mit unterschiedlichen Regelungen in den Bundesländern, die auf viele nicht nur willkürlich wirken, sondern im schlimmsten Fall als persönliche Profilierungs-Möglichkeit potenzieller Kanzler-Kandidaten wahrgenommen werden. Echte Erklärung oder Einordnung? Fehlanzeige.
Dynamik und Nicht-Wissen als Nährboden für Fake-News
Je undurchschaubarer die Abwägungsprozesse in Politik und Wirtschaft in der Corona-Krise sind und je lauter die Kritik an einzelnen Entscheidungen wird – desto lauter werden auch Fake-News und diejenigen, die ihre eigene politische Agenda durchsetzen wollen. Teile der Bevölkerung sind dabei immer stärker in Filterblasen unterwegs, in denen „alternative“ Nachrichtenformate, Verschwörungstheoretiker oder einfach nur Verhaltensgestörte unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit nahezu ungestört agieren können. Inhaltlich entsteht so ein explosiver Mix an Aussagen, die zum Teil so abstrus sind, dass man sich eigentlich nur noch fragen kann, wie überhaupt irgendjemand darauf reinfallen kann – wie zum Beispiel, dass hinter COVID-19 eine von Bill Gates gesteuerte Weltverschwörung steckt. Aber am Ende scheinen zumindest Versatzstücke der Fake-News-Welle auf Zustimmung zu treffen – und das spricht nun wirklich nicht für die Kommunikation von Wissenschaft und Politik.
Kommunikation mit dem Ziel einer Verhaltensänderung
Vor dem Hintergrund der dynamischen Nachrichten und Informationslage in der Corona-Krise laufen kurzfristig erlassene Verbote und Verordnungen dabei Gefahr, bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen im schlimmsten Fall als überzogen oder unnötig interpretiert zu werden. Mehr denn je bedarf es daher Aufklärung und Erklärung – sowie einer Kommunikation, die weniger Impulsgetrieben, sondern mittel- und langfristig und auf Akzeptanz und Verhaltensänderung ausgerichtet ist. Es ist allerhöchste Zeit, dass sich Bundesregierung und die entsprechenden Institutionen dieser kommunikativen Aufgabe annehmen. Es gilt dabei, Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung zu nehmen und dieses zu verändern – zumindest, bis ein ausgereifter Impfstoff verfügbar ist. Angefangen mit der – scheinbaren – Banalität, dass man mit Krankheitssymptomen daheim bleibt und sich nicht an den Arbeitsplatz schleppt und dort alle ansteckt. Vielleicht hilft da auch ein Blick in die Geschichte: Als das HIV-Virus sich in den 1980er Jahren zur Pandemie entwickelte, führte das Stigma der „Schwulenseuche“ dazu, dass einschlägige Nachtclubs im Sinne der Hotspot-Bekämpfung geschlossen und verboten wurden. Aber erst mit der Verhaltensänderung zu „safer sex“ und der entsprechenden dialogisch ausgerichteten Grassroots-Kommunikation der BZgA kam es zur Eindämmung. Und ein Gummi ist doch fast sowas ähnliches wie ein Mundschutz, den man – wie es in asiatischen Ländern völlig normal ist – in der Öffentlichkeit trägt, um andere nicht anzustecken.