Die Headline: Cliffhanger oder Info?
Kurz und klar, prägnant und pointiert: das ist die perfekte Überschrift – gewesen seit dem Clickbaiting von BuzzFeed.com, Heftig.co & Co? Die irre langen Headlines der Viral-Medien schaffen effizienter, was auch die knappe bewirken sollte: Wir klicken, lesen weiter. Ist das ein Grund, zumindest digital alte Regeln zu vergessen oder wird der User wahnsinnig, wenn er ständig Versprechen jagen kann, ihm aber keiner das Wichtigste direkt erzählt? Gibt es Bereiche, in denen die prägnante Form weiterhin unverzichtbar ist? Und wenn ja: Verlässt man sich beim Schreiben auf Regeln, auf sein Gefühl oder findet nur ein Test die beste Variante?
Verführung mit Gefühl, Reizwort und Versprechen
Die emotionalen Neugier-Fänger von heftig.co und upworthy erzielen hohe Klickraten. Sie teasern besser an, als es jeder Teaser kann, denn der kommt zu spät. Neben Klicks, Spannung durch Twists und Überraschung für den Leser bewirken sie aber auch negatives: Der Stil ist plump und mittlerweile so eng mit Kitsch und Boulevard verknüpft, dass es für viele die Sharability eingeschränkt. Was so stark nach Pausenhof klingt, muss schon arg witzig oder interessant sein, damit ich es in meinem Profil teilen will. Diese Posts wedeln mit einem Gerüchtestück, rennen damit weg und rufen „komm doch, hol’s dir!“ Die informative Überschrift dagegen ist ein Service. Sie legt die Karten auf den Tisch und oft sind wir damit schon zufrieden. Wer nur verspricht, aber das Wichtigste versteckt, erinnert an die umgeknickten Ecken in Poesie-Alben der 80er: „Nicht gucken – Du warst schon immer neugierig“. Es fuchst einen eigentlich, wenn man trotz des kindischen Stils wirklich wissen will, WAS DANN PASSIERTE. Man ärgert sich sogar ein bisschen, wenn der Artikel tatsächlich hält, was die Überschrift verspricht.
Der #heftigstyle passt nicht zur SEO
„Schlagzeile“ ist ein Synonym für „Nachricht“, weil die Kurzform dem Eiligen alles ist – und Google verhält sich ähnlich: Das Wichtigste muss sofort kommen, sonst geht es verloren. Zwar zeigt Google in seinen Trefferlisten ein Stück Text oder Teaser, zu lange Überschriften aber werden vom Ende her gekürzt. „Was dieser Mann jahrelang mit seinem…“ bleibt dann vielleicht übrig von einer Geschichte über einen Vater, der mit seinem Sohn geduldig das Lesen geübt hat, bis dieser entgegen aller Erwartungen und Diagnosen besser liest als seine Mitschüler. „Legastheniker gewinnt Vorlesewettbewerb“ könnten wir komplett lesen und unmittelbar einschätzen. Zentrale Suchbegriffe müssen auch aus einem weiteren Grund ganz nach vorn: Google wertet jede Website und Überschrift als HTML aus und gewichtet dabei tendenziell Elemente, die früher kommen, stärker.
Auf facebook und twitter funktionieren längere, verlockende Überschriften gut zur Generierung von Traffic. Sie müssen nicht informativ sein; wichtig ist allein, dass sie zum Klicken anregen. Für die Prägnanz ist das fatal. Verfasser, denen vor ein paar Jahrzehnten die Bedürfnisse eiliger Leser egal waren, haben beim Schreiben vielleicht noch an die Zeitungsjungen gedacht. Mir selbst ist zum ersten Mal einer in „Hello (Turn your radio on)“ von Shakespears Sister begegnet:
„The paperboy screamed out the headlines in the street
Another war and now the pound is looking weak
And tell me have you read about the latest freak?“
Allerdings ist der Song von 1992 – und auch damals hat längst kein Zeitungsbote mehr die Überschriften ausrufen müssen. Sie hatten dafür nicht mehr knapp zu sein. Schön, dass man seit ein paar Jahren beim Schreiben zumindest an seine Suchmaschine denken kann.
Mit Trail and Error zum Erfolg
Im Internet sind mit uns auch die Überschriften viel unabhängiger von Ort und Zeit geworden, als sie es je waren. Wer möchte, dass sie frei vom Kontext funktionieren, hat einen Anspruch mehr. Viele hassen das Verfassen von Überschriften auch schon so. Für „die Nachricht über der Nachricht“, wie Wolf Schneider, der Deutschlehrer zig Tausender Berufsschreiber, sie nannte, gibt es keine Regel und kein Schema, das immer funktioniert. Mit dem Sprachgefühl eines Minimalismus-Poeten und mit Diskurskenntnis kommt man schon weiter. Meistens geht es um ein eher trockenes Destillieren, Abwägen und oft um Geschmack: Gnadenlos witzige Doppeldeutigkeiten wie im Postillion-Newsticker passen leider nicht überall hin. Wer aber selbst für die Zukunft kontextsicher texten will, muss ein Prophet werden. Für die übliche Zielgruppe in der Gegenwart ist ein Test ein gutes Entscheidungsinstrument oder zumindest eine gute Ergänzung zum eigenen Horizont.
„Headline testing“ kann man mit zwei Versionen betreiben (A/B- bzw. Split-Tests) oder als Multivarianten-Test, wenn man verschiendene Kombinationen von Überschriften mit unterschiedlichen Bildern oder anderen Elementen testen möchte. Drei Bildvarianten und zwei Überschriften werden dann in sechs verschiedenen Versionen gleichzeitig getestet. Das geht schnell und braucht einiges an Traffic, damit die Größe der Stichprobe bei einem Test für jede Variante groß genug ist, um aussagekräftig zu sein. Je größer die Anzahl der zu testenden Kombinationen, desto kleiner die Anzahl der User, die die einzelne Variante zu sehen bekommen und darauf reagieren können.
Ob mit oder ohne Test: Schreiben muss man die Überschriften immer noch selbst. Wer etwas Interessantes, Relevantes, Aktuelles oder Neues zu sagen hat, das einen Nutzen, Mehrwert oder Orientierung verspricht, sollte das in der Überschrift verraten. Lösungen anzukündigen macht einen Text über ein Problem attraktiver und einen angemessenen Superlativ oder ein passendes Reizwort sollte niemand erst im letzten Absatz finden. Manchmal funktionieren Fragen am besten und seltsamerweise mögen wir Zahlen in Überschriften: Listicles – Artikel mit Hit- oder Checklisten – kommen sehr gut an. Und wie immer, kann man Neugier nicht nur mit dem Kopf (des Texts) wecken, sondern auch mit Schmuck und Schuhen des Artikels: mit Zwischenüberschriften, Bildunterschriften und Hashtags.